Ansichtspostkarten als Quellen einer deutsch-deutschen Stadtgeschichte

: Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzone als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland 1949 bis 1989. Berlin 2020 : DOM Publishers, ISBN 978-3-86922-717-7 248 S., 196 Abb. € 28,00

: Vorsicht auf dem Wendehammer! Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949 bis 1989. Berlin 2023 : DOM Publishers, ISBN 978-3-86922-554-8 288 S., 260 Abb. € 28,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Kraus, Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation, Stadt Wolfsburg

In den besten Fällen funktionieren Bücher als Augenöffner – nach der Lektüre nimmt man seine Umwelt mit einem Mal anders wahr. Wer Ulrich Brinkmanns bereits 2020 erschienenes Buch „Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzone als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland 1949 bis 1989“ gelesen und betrachtet hat, wird fortan schwerlich durch eine innerstädtische Verweilzone spazieren können, ohne sie umgehend in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen: Ob kleinteilige Pflasterungen mit Raster- und Teppichstrukturen, die es zu dechiffrieren gilt, ob markante Beleuchtungen, überall platzierte Kleinarchitektur, Blumenkästen oder künstlich geschaffene Wasserlandschaften – die Elemente scheinen einem Setzbaukasten entnommen, ohne dabei ewig gleiche Ergebnisse hervorgebracht zu haben. Jene verkehrsfreien Stadträume waren, so Brinkmann, in den 1960er-Jahren „state of the art in der deutschen Stadtplanung“ (2020, S. 14), was sie indes nicht davor bewahrte, spätestens mit der Jahrtausendwende als „stadtplanerisch kapitaler Fehler“ wahrgenommen (2020, S. 13) und im Falle besonders kapriziöser Gestaltungen meist rigoros rück- oder umgebaut zu werden.

Auch der nun erschienene zweite Band, dem noch ein mit Vorfreude erwarteter dritter zu Postkartenbildern von Großwohnsiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre folgen soll, fungiert als eine Schule des Sehens deutsch-deutscher Stadtgeschichte. Im Fokus stehen diesmal stadtplanerische Elemente von A wie Altstadtring über K wie Kreisverkehr, S wie Straßendurchbruch, T wie Trogbauwerk bis U wie Umgehungsstraße. All das wurde, man mag es kaum glauben, noch vor einem halben Jahrhundert in steter Regelmäßigkeit zum Postkartenmotiv, obgleich, wie Brinkmann bemerkt, der „Grad der Sehenswürdigkeit“ bisweilen „gen Null tendiert“ (2023, S. 211). Durch die Analyse ganzer Bildreihen vermag der studierte Architekt und Redakteur der „Bauwelt“ die Umgestaltungen deutscher Stadtlandschaften, darunter großflächige Straßendurchbrüche, weiträumige Parkplatzanlagen oder Stadtautobahnen, Schritt für Schritt nachzuzeichnen. So dienen ihm die zugrundeliegenden Ansichtskarten dazu, die in ihrer Gesamtheit nachgerade erschreckende Umgestaltung des städtischen Raumes hin zur „autogerechten Stadt“ in all ihrer Limitierung und Funktionsreduzierung zu veranschaulichen. Wie ein Spiegel in die Vergangenheit visualisieren die Postkarten die städtische Architekturgeschichte über mehrere Jahrzehnte. Wie Brinkmann bildhaft und farbenfroh zu zeigen vermag, folgten die beiden deutschen Staaten zwar sich deutlich voneinander unterscheidenden architektonischen Konzeptionen und Leitbildern – dem sozialistischen Neubeginn einerseits, der ganz auf privatwirtschaftliche Nutzungen zugeschnittenen Stadtentwicklung andererseits –, fanden aber immer wieder markant ähnliche gestalterische Lösungen.

Im ersten Band rekapituliert Brinkmann die Entwicklung der Fußgängerzone im geteilten Deutschland. Er verfolgt deren Funktion, die jeweiligen Besonderheiten wie auch den gestalterischen Wandel jener städtebaulichen Manifestation der Nachkriegszeit. Zum Ausgangspunkt seiner Visual History wird dabei ein umfangreicher Fundus von Ansichtskarten aus der Bundesrepublik und der DDR – gut 30.000 Exemplare –, den der passionierte Sammler im Laufe von vier Jahrzehnten zusammengetragen hat. Die Besonderheit der Ansichtskarten erkennt Brinkmann in ihrer Alltäglichkeit: Mit ihnen sollten weder kommunale Entscheidungsträger noch Bürgerinnen und Bürger durch suggestive Stadtimaginationen von baulichen Veränderungen überzeugt werden. Ebenso wenig dienten die Postkarten dazu, die triste Realität „heruntergekommene[r] Wohnhochhäuser, verstopfte[r] Autostraßen und leerstehende[r] Ladenlokale“ zu illustrieren, sprich: „die Untauglichkeit dieses Stadtideals“ zu belegen (2020, S. 8). Zeitgenössisch sollten die Karten vielmehr Fortschrittlichkeit dokumentieren und auch einen gewissen lokalen Stolz vermitteln.

Anhand des Mediums Ansichtspostkarte fächert Brinkmann das ganze Repertoire gestalterischer Elemente auf: von der Bepflasterung über Grünflächen, Hochbeete und Pflanzschalen bis hin zu Pavillons und ausgefeilten Beleuchtungskonzepten. Dabei fragt er nicht nur, wie der öffentliche Raum zum Wohle des Fußgängers in Szene gesetzt wurde, sondern auch, wie dieser über die Bildpostkarten wahrgenommen werden sollte. Denn die für Produktion und Distribution verantwortlichen Akteure bildeten mit dem Medium Ansichtskarte die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab, sondern schufen durch die verwendeten Motive eine Imagination derselben. So stellt der Autor beispielsweise lakonisch fest, dass jene migrantischen Arbeitskräfte, die am bundesdeutschen „Wirtschaftswunder“ einen maßgeblichen Anteil hatten, auf den Ansichtskarten von Fußgängerzonen selbst der Industriestädte des Ruhrgebiets „vollständig abwesend“ sind (2020, S. 23). Sie sollten eben nicht sichtbarer Teil des städtischen Lebens sein.

Die postalisch versandten Visualisierungen der Fußgängerzone zeigen aber auch, wie an der Seite der die 1970er-Jahre dominierenden städtebaulichen Maßgabe „Urbanität durch Dichte“ leicht zeitversetzt ein zweites Leitbild immer konkretere Formen annahm: dasjenige der „gegliederte[n] und aufgelockerte[n] Stadt“ (2020, S. 46). Für dieses gegenläufige Leitbild wurden ganz neue Raumtypologien entwickelt und mit den Jahren immer elaboriertere landschaftsarchitektonische Gestaltungen vorgenommen. Innerhalb dieses Entwicklungsprozesses verfolgten die einzelnen Kommunen, wie sich mittels der 196 abgedruckten Postkarten mühelos erschließt, über die Jahrzehnte hinweg durchaus unterschiedliche Vorstellungen vom Erscheinungsbild ihrer innenstädtischen Verweillandschaften. Die Bildpostkarten zeigen aber auch, „dass das jeweilige Resultat vielerorts offenbar als identitätsstiftend wahrgenommen beziehungsweise als vorzeigbare ‚Sehenswürdigkeit‘ verstanden wurde“ (2020, S. 78). Dass die Planer bei allen Unterscheidungen in Ost und West dann doch auf ähnliche Elemente zurückgriffen, sodass sich immer wieder Parallelen erkennen lassen, liegt dem Autor zufolge an der ähnlichen Prägung der in den 1950er- und 1960er-Jahren tätigen Akteure.

Wie sein Vorgängerband basiert auch „Vorsicht auf dem Wendehammer!“ auf der besagten Ansichtskartensammlung, fokussiert nun jedoch auf die Straße als „urbane Problemzone der Gegenwart“ (2023, S. 8). Dieser Schwerpunkt ist mit gutem Grund gewählt, wurde die Bewältigung des stetig zunehmenden Verkehrsaufkommens auch im innerstädtischen Raum seit den 1950er-Jahren doch zu einer zentralen, selbst gewählten Aufgabe der Kommunen im Sinne des in Ost- wie Westdeutschland verfolgten städtebaulichen Leitbildes der „autogerechten Stadt“.1

Angesichts der aus heutiger Perspektive mitunter absurd anmutenden Motive – fast unbefahrene Autotunnel, Kreisel oder Umgehungsstraßen (wer sich wohl über solche Zusendungen freute?) – kommt man aus dem Staunen teils nicht mehr heraus. Ob in Bad Gandersheim, Cottbus, Dresden, Essen, Herford, Hildesheim, Leipzig, Lübeck, Paderborn (Brinkmanns Geburtsort), Prerow, Soest, Ulm, Waiblingen oder im geteilten Berlin: Überall lenkt Brinkmann den Blick auf je spezifische Ausprägungen des Städtebaus. Da zeigt eine Ansichtskarte der späten 1960er-Jahre aus Castrop-Rauxel den dortigen Engelsburgplatz – eine vielspurige Straße, die einen Platz umgibt, der trotz Fontänen, Rabatten und gestalteter Grünanlage eines ganz sicher nicht mehr ist: ein Platz, der durch die Bürgerinnen und Bürger genutzt werden kann und soll. Entsprechend schlussfolgert Brinkmann, dass „ein Betreten dieser Fläche gar nicht erwünscht war“ und wir es mit bloßem „Betrachtungsgrün“ zu tun haben (2023, S. 124). Andere Postkarten etwa aus Halle an der Saale oder Gießen setzen Fußgängerbrücken in Szene, die zwischen Treppenhäuser oder Aufzugtürme eingepasst große Fahrstraßen überbrücken, um den Fließverkehr nicht zu behindern. Dies stellt sich teils kurios dar, wenn beispielsweise eine Ansichtskarte der West-Berliner Tauentzienstraße (2023, Nr. 148) eine darunterliegende nahezu komplett verwaiste vierspurige Straße, sprich gähnende Asphaltleere zeigt – ein anschauliches Exempel für das, was Brinkmann prägnant mit „Verkehrserwartungsland“ benennt (2023, S. 118). Letztlich sind in solchen Motiven aus heutiger Sicht bereits die Anfänge der gesellschaftlichen Dominanz der Petromoderne zu entdecken, deren Überwindung unsere Gesellschaft gegenwärtig vor so große Schwierigkeiten stellt.

Straßenraum war eben auch Erfahrungs- und Erlebnisraum, oder sollte mehr und mehr dazu werden. Seltsamerweise galt dies aber, wie Brinkmann darlegt, vor allem für den Lenker wie auch die Passagiere der auf immer breiteren Straßen dahinfahrenden Personenkraftwagen und eben nicht für die Fußgänger, die auf den Ansichtskarten der innerstädtischen Verkehrswege mit dem Voranschreiten der Jahrzehnte regelrecht Seltenheitswert gewinnen (mit Ausnahme der oben beschriebenen Fußgängerzonen, die zu ihren ureigenen Habitaten wurden). Der Autor bringt zahlreiche Beispiele „für eine Stadtplanung, die über allen technisch beflügelten Beglückungs- und Allmachtsfantasien den Menschen und sein tägliches Leben weitgehend aus dem Blick verloren hatte; der (Groß-)Städter existierte nur noch als Autofahrer“ (2023, S. 154f.). Es ist die „World beyond the Windshield“2, die das „touristische Sehen“ (2023, S. 8) bestimmte und in den ersten Nachkriegsjahrzehnten eine verengte Wahrnehmung schuf, die ganz auf eine automobilisierte Beschleunigung setzte. Da die Ansichtskarte im Zuge veränderter Kommunikationsformen und der ubiquitären Präsenz von Schnappschüssen, die jederzeit verschickt werden können, mittlerweile rapide an Bedeutung verloren hat, muss die Frage nach einem etwaigen neuerlichen Wandel innerhalb der jüngsten Vergangenheit unbeantwortet bleiben.

Für Brinkmann sind die präsentierten und analysierten Postkarten jedoch mehr als lediglich visuelle Zeugnisse des technischen Fortschritts, der Beschleunigung und der Modernität der 1950er- bis 1980er-Jahre oder der ihnen zugrundeliegenden Ideen, die durch das besagte touristische Sehen in Augenschein gesetzt werden sollten. Sie spiegeln auch den – sich aus Sicht des Fußgängers oder der Fahrradfahrerin tendenziell immer trister gestaltenden – Erfahrungsraum der Bürgerinnen und Bürger im geteilten Deutschland. Schließlich nahmen diese Menschen den Stadtraum ja nicht allein auf Postkarten wahr, sondern besonders auf den tagtäglich genutzten Wegen. Da der Autor zudem auch immer wieder die verantwortlichen Stadtplaner und Architekten benennt und sie als Beispiele „für das kontinuierliche Wirken einer ‚Funktionselite‘ über alle politischen Umbrüche hinweg“ aufführt (2023, S. 56), werden personelle Kontinuitätslinien ebenso sichtbar wie die Netzwerke, die den Systemwechsel vom Nationalsozialismus hin zur bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie und zur realsozialistischen DDR meist bruchlos überdauerten.3

So sehr Brinkmann bei seinen Bildanalysen auf die Details achtet, seinen Blick nicht nur für moderne Automodelle, sondern eben auch für Mütter mit Kinderwägen geschärft hat, die er beide als „Staffage“ für eine DDR deutet, welche durch die Ansichtskarten als „junge Nation“ präsentiert werden sollte (2023, S. 74), und so sehr er es versteht, die umseitig festgehaltenen textlichen Botschaften der Absender „gelaufener“ Karten in seine Beobachtungen und Beschreibungen zu integrieren (auch wenn in beiden Bänden allein die Vorderseiten abgebildet sind), so sehr fehlt den sonst überaus gelungenen Büchern jedoch ein Kapitel, das in die Strukturen der Postkartenindustrie einführt. Denn wer waren all jene (Hobby-)Fotografinnen und Fotografen, die die zahlreichen Verlage und Kleinstverlage mit den aus heutiger Sicht oft befremdlich wirkenden Motiven versorgten, die diese an Souvenirläden und Kioske lieferten, die sie ihrerseits wiederum tausendfach an Einheimische wie an Touristen verkauften, die die erstandene Ware quer durch die Republiken und darüber hinaus verschickten – und dies ganz ohne die für die baulichen Umgestaltungen verantwortlichen Planungsbüros, geschweige denn die Stadtverwaltungen, das entstehende Stadtmarketing oder Akteure des Tourismus in diesen Produktionsprozess einzubeziehen?

Dessen ungeachtet überzeugen beide Bände mit der ihnen zugrunde liegenden Systematik, wie auch die Präzision der Bildanalysen und deren sprachliche Klarheit begeistert. Dem ersten, längst vergriffenen Band von 2020 wünscht man eine rasche Neuauflage. Und gerade im aktuellen Band von 2023 betreibt Ulrich Brinkmann eine deutsch-deutsche Stadtgeschichte der ganz eigenen Art: Gleichermaßen Klein-, Mittel- und Großstädte in Ost- wie Westdeutschland in den Blick nehmend, erzählt er, wie im Dienste des Leitbildes der „autogerechten Stadt“ aufwendige infrastrukturelle Umbauten der 1950er- bis 1980er-Jahre Fußgänger, Passanten und Flaneure aus den Stadtlandschaften verdrängten. Dieser Prozess, veranschaulicht mit Hunderten von Ansichtspostkarten in beiden Bänden, ist nicht anders als ein Trauerspiel zu lesen und zu betrachten. Mit anderen Worten: Pflichtlektüre (nicht nur) für jedes stadtgeschichtliche (Pro-)Seminar.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christoph Bernhardt, Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der „autogerechten Stadt“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 526–540, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2017/5527 (07.07.2023).
2 Christof Mauch / Thomas Zeller (Hrsg.), The World beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe, Athens 2008.
3 Dies wird jüngst auch deutlich in: Die Unabhängige Historikerkommission „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ (Hrsg.), Planen und Bauen im Nationalsozialismus. Voraussetzungen, Institutionen, Wirkungen, 4 Bde., München 2023.

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